Die Zeit heilt alle Illusionen

Ein Blick ins Netz auf niedliche rosa Worte. „Wenn du nicht dünn bist, wirst du nicht geliebt werden, hast du keine Disziplin, wird niemand je die Perfektion deiner liebesentleerten Seele erkennen – oder was?“ Genau das, was die Bild-Zeitung sucht. Genau das, was die 16-Jährigen lesen. Vermutlich. Immerhin können die, die das schreiben, nicht älter sein. Meistens sind sie aber auch nicht untergewichtig.

Mit etwa 20 habe ich überhaupt zum ersten Mal einen „Pro Ana Blog“ gesehen. Vorher las ich Nachrichten und so langweiligen Kram. Mit stirntätowierter Anorexie-Diagnose ist es bekannte Gewohnheit, sich per Internet up to date zu halten. Ich kenne keinen Anorektiker, der nicht mindestens fünf Bücher zum Thema besitzt und regelmäßig die News und YouTube konsultiert, um die neuesten Presseergüsse zur Materie einzusehen. Das gehört dazu wie Wiegen und Sport. Auf die Weise kam ich eben auch irgendwann zu – denken wir uns einen Namen aus – Seelenelfe’s Pro Ana Seite. Seelenelfe kann weder mit korrekter deutscher Interpunktion, noch mit der Definition von Anorexie etwas anfangen. Sie ist 1,65 groß und wiegt 70 kg. Nach ihrer Beschreibung eines gewöhnlichen Tages möchte man meinen, sie nehme nur Äpfel zu sich und bestehe aus Haut und Knochen. Elfe berechnet täglich ihren BMI, wiegt sich 3x und trinkt 3 Liter Coke light. Das alles hilft ihr jedoch noch nicht, die perfekte Seele, die in ihrem rundlichen Körper schlummert, an die knöcherne Oberfläche zu bringen. Sie möchte gern mager sein. Ihr Ideal ist ein BMI von 18. Im Übrigen feiert sie bald ihren 17. Geburtstag.

Ein paar Seiten weiter hat Elfe Gedichte verfasst. Gar nicht so schlecht, denke ich. Schön traurig. Passen gar nicht zu dem hässlichen Pink. Noch weniger passt der Rest. Jede dieser Kinderseiten ist nach einem bestimmten, je nach Kreativität des Betroffenen etwas ausgebautem, Schema aufgebaut. Zunächst erhält man eine Einführung in das Themengebiet über den sog. Disclaimer.

Liebe Leser. Dies ist eine Pro Ana Seite. Wenn du nicht weißt, was Pro Ana ist, wenn du von einer Essstörung betroffen bist und dich gerade in Therapie befindest oder das vorhast, verlasse bitte sofort diese Seite!!!!!!!!!!!!!

(Ausrufezeichen sind Herdentierchen, wie wir wissen…) Ebenfalls zu finden ist dann oft ein ausführliches Menu. Hier sind übersichtlich die verschiedenen obligatorischen Inhalte aufgelistet:

Ana Stuff: Anas Brief, Anas Glaubensbekenntnis, Anas Gebote, etc. (Apostroph habe ich weggelassen, eine echte Ana schreibt natürlich „Ana’s“, da in den Neuronen aufgrund von fortgeschrittener Erkrankung bereits zu wenig Sauerstoff ankommt, um den Betroffenen erkennen zu lassen, dass man im Deutschen auf selbiges verzichtet…)

Thinspiration – Galerie mit allem, was dürr und mager ist.

Links – dürfen nicht fehlen. Das befreundete Kiddie-Forum in kribbelblau steht an Platz eins, dicht gefolgt von einigen Freundesseiten des Bloganbieters, von Elfe kommt man jedenfalls bequem zu Fee, hungry.soul und Ana’s lil Sister etc.

Dies als Auszug.

Nach Jahren, die ich mit mir und meiner Krankheit allein verbracht hatte, war es ein ziemlicher Kulturschock, das erste Mal auf einer solchen Homepage zu landen. Alles bunt und schön und jugendlich. Und v.a. so simpel. Dazu hier einmal die Gebote von Frau Ana in voller Länge:

1. Wenn ich nicht dünn bin, kann ich nicht attraktiv sein!

2. Dünn sein ist wichtiger als gesund sein!

3. Ich muss alles dafür tun, dünner auszusehen/zu sein!

4. Ich darf nicht essen ohne mich schuldig zu fühlen!

5. Ich darf keine Dickmacher essen ohne hinterher Gegenmaßnahmen zu ergreifen!

6. Ich soll Kalorien zählen und meine Nahrungszufuhr dementsprechend regulieren!

7. Die Anzeige der Waage ist wichtiger als alles andere!

8. Gewichtverlust ist gut, Zunahme ist schlecht!

9. Du bist nie zu dünn!

10. Nahrungsverweigerung und dünn sein sind Zeichen wahren Erfolgs und wahrer Stärke!

Um ehrlich zu sein, das dachte ich mir schon seit Jahren an jedem neuen Tage kurz nach dem Erwachen. Aber hey, wer schreibt das als Appell an die Allgemeinheit der versammelten Anorexie-Elite ins Netz?? (quittiere mit kurzem *lol*) So zu denken, das ist Teil der Krankheit. Und an dieser Stelle kommen wir zu dem Punkt, der mich als Betroffene etwas irritierte: was um alles in der Welt ist denn der Lifestyle „Pro Ana“?

Vor ein paar Jahren, als Pro Ana aufkam, war das alles noch etwas eindeutiger. Pro hieß „dafür!“ „Hungern, und zwar jetze!“ Pro war nicht krank, sondern cool. Für diejenigen, die dabei sein wollten jedenfalls. Die Pro Ana Seiten vermittelten zum absoluten Großteil ein einheitliches Bild der Hungerkultur.

„Starving for Perfection.“
„Ich hungre mich nicht aus, ich perfektioniere meine Leere.“ oder
„I want a perfect body, I want a perfect soul.“


sind charakteristische Zeilen für diese Denkrichtung. Man findet diese Triggerlines in unerschöpflicher Menge auf den o.a. Seiten. Ich muss zugeben, dass ich sie hochmotivierend fand. Nachdem ich infolge einer Krise 10 kg zugenommen hatte, und 47 kg wog, schaffte ich es mit Hilfe solcher Gedanken, wieder auf 41 zu kommen. Mit noch einem kg weniger konnte ich mich den kindlichen Gedanken der rosa-Blog-Autoren jedoch nicht mehr anschließen. Mir ging es einfach schlecht.

Ich wollte das schlicht einfach mal gesagt haben. Nein. Anorexie ist krank, und wenn ihr sie „Pro Liebe“ nennt, ist es immer noch Anorexie und kein Wiesenspaziergang. Mir ist klar, dass man das mit 16, Kugelbäuchlein und dem Traum von dürrer Grazie nicht verstehen kann, aber wenn man wie ich mittlerweile 8 Jahre damit lebt, mit dem alltäglichen und jährlichen Auf und Ab, dann ist es sehr sehr eindeutig. Dann ist es nicht mehr lustig, cool oder ästhetisch, sondern v.a. anstrengend. Es macht mich traurig, immer wieder über solche Blogs zu stolpern. Ich wünschte auch nicht, dass ich meine Krankheit so sehen könnte, weil ich nämlich denke, dass diese Sichtweise nichts ändert. Die Verblendung und die fehlende Einsicht in das eigene Unvermögen mit sich und dem Essen zurecht zu kommen, sind so schon groß genug. Es bedarf keiner weiteren Illusionen, denen man sich zur Verbesserung der Lebensqualität hingeben müsste. Ana ruiniert dich über kurz oder lang. Die Frage ist, wie viel Ruin erträgst du oder wie wenig Glück kannst du im Gegenzug aushalten. Treibt dich die Form deiner Beine zum Wahnsinn oder die Vorstellung, dass du nie Kinder kriegen wirst? Willst du schön gefunden werden oder hast du Angst vor Nähe? Wer bist du?

Egal wovon du träumst. Ich wünsche dir alles Gute.

Und ich wünsche mir, dass die Menschen, die diese albernen Blogs verfassen, lieber Mathe büffeln, denn in 3 Monaten wollt ihr sowieso nicht mehr dünn sein. Dann hat euer neuer Freund euch schon 10x mit zu McDonalds genommen und ihr habt eure eigene Blogadresse vergessen. Die Alternative wäre ein Absturz in eine der chronischsten Erkankungen, die es gibt. Möchtet ihr das wirklich? Und wenn ja, warum möchtet ihr – wenn ihr schon den Anspruch darauf erhebt „anorektisch“ genannt zu werden – diese Krankheit nicht wenigstens als das sehen, was sie ist?

Fragen über Fragen.

~ The End ~


Eine Antwort zu “Die Zeit heilt alle Illusionen

  1. The Curious Crab

    Ich bin durch Zufall (Tag-Suche „Gesundheit“) auf dein Blog gestoßen. Mir war nicht wirklich klar, welche Ausmaße all das im Netz genommen hat und dass so viele Kids sich gegenseitig zum Hungern anhalten.
    Ich erinnere mich an meine Schulzeit. Erschreckend, wieviele Mädchen allein in meiner Stufe monatelang in einer Klinik landeten. Untereinander Wetteifern, wer dünner ist. Tränen, wenn ein „normales“ Mädchen dünnere Oberschenkel hatte.
    Verletze dich selbst und rede darüber: „Ich habe zuerst mit dem Ritzen angefangen, du blöde Nachmacherin!“
    Krankheit als Statussymbol?

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