Tagesarchiv: April 2, 2009

Pro Ana. Versuch einer aktuellen Definition.

Unter Pro Ana versteht man im allgemeinen zunächst die Abkürzung für Pro Anorexia. Anorexia nervosa, der medizinische Terminus für die Diagnose Magersucht, ist in unserer Gesellschaft kein Fremdwort – es ist die bekannte Bezeichnung einer Krankheit. Pro Anorexie allein würde also zunächst „Für die Krankheit Anorexie“ heißen. Dem ist jedoch nicht so.

Pro Ana umfasst verschiedene Ebenen. Als Oberbegriff würde ich die „Lebenseinstellung oder Lifestyle Pro Ana“ voranstellen. Anschließend die „Pro Ana Bewegung“ und zu letzt ihre Anhänger, die man – wie schon zu vermuten war – als „Pro Anas“ bezeichnet.

Die Lebenseinstellung, „pro“ zu sein, bedeutet:

  • Untergewicht anzustreben oder halten zu wollen, unabhängig von gesundheitlichen Risikofaktoren
  • sich dessen jedoch bewusst zu sein und
  • die Krankheit, der man sich teilweise oder vollständig bewusst sein kann, nicht behandeln lassen zu wollen.
  • Grob formuliert könnte man auch sagen: Ein Leben mit der Essstörung führen zu wollen

Unter „Pro Ana Bewegung“ versteht man:

  • Gruppierungen meist Jugendlicher und junger Erwachsener, deren gemeinsames Interesse es ist, abzunehmen oder ein Untergewicht zu halten.
  • Dabei geht es um die gemeinsame Unterstützung im Alltagsleben mit der Essstörung, um Probleme, die im Leben dabei auftreten und Diskussionen über die Reaktionen der Mitmenschen sowie andere essstörungsbezogene Inhalte
  • Diese Themen werden meist in Internetforen diskutiert; außerhalb dieses Rahmens finden sich „Pro Anas“ nur selten zusammen
  • Die Internetforen, auch „Pro Ana Foren“ genannt, können sehr unterschiedlich aufgebaut sein. Ebenso bestehen große Unterschiede in Radikalität der Einstellung zum Umgang mit der Essstörung.
  • Meist sind die Foren durch eine große Privatsphäre ihrer Nutzer gekennzeichnet. Es gibt zahlreiche geschlossene Userbereiche, in die man erst dann Zutritt erhält, wenn man sich der Forengemeinde vorgestellt hat und sicher ist, dass man selbst an einer Essstörung leidet.
  • In den Foren wird nicht oder fast nicht tabuisiert. Über Gewicht, Maße und gesellschaftlich schwierige Themen wie z.B. Erbrechen/Bulimie kann frei gesprochen werden.

Pro Anas

  • Sich selbst als Pro Ana zu bezeichnen, bedeutet, sich der Pro Ana Bewegung zugehörig zu fühlen.
  • Pro Anas können ganz unterschiedliche Motive haben:
    • Adoleszenskrise: hier wäre die Entwicklung normalerweise eine klassische Magersucht. Durch die mediale Attraktivität von Pro Ana wird sie hier jedoch vmtl. leichter in eine Richtung gepusht. Konsequenz: Jugendliche mit radikaler Vorstellung vom Abnehmen.
    • Langjährige Betroffene: nach bekannter längerer Erkrankung an Magersucht kommt es zum Kontakt mit der Pro Ana Szene. Betroffene finden einen Raum, in dem sie frei diskutieren können und fühlen sich meist schnell verstanden. Konsequenz: Rückfall oder Bestätigung des eigenen Handelns.
    • Normalgewichtige: eigentlich nicht magersüchtige User, evtl. aber bulimische, die auf der Suche nach Lösungen in die Pro Ana Bewegung finden. Sie versuchen oft verzweifelt, Untergewicht zu erreichen, mit mehr oder weniger großem Erfolg. Konsequenz: Betroffene, die hier ebenfalls Verständnis, aber auch neue Motivation suchen und finden.

Pro Ana hat den Klang eines Mädchennamens. „Ana“ oder „Anna“ ist quasi ein Diminitivum der Anorexie. Um das zu erklären, muss man einen Blick auf die Entstehung von Pro Ana werfen. Ende der 90er aus den USA nach Europa gekommen, war die Bewegung vor allem ein Zeitgeist unter dem Banner vieler sehr radikaler Ideen. Einschlägige Texte wie die „10 Gebote“ oder „Anas Brief“ konnte man bald überall finden, bemühte man Google nur lange genug. Erste Internetforen entstanden. In dieser Zeit schien Pro Ana eine enorme Radikalität aufzuweisen. Die Texte schienen beliebt zu sein, aufgrund ihrer häufigen Wiedergabe muss es aber auch etliche User gegeben haben, die dazu standen oder sie wenigstens als extreme Motivation gebrauchten. Die Verniedlichung schien eine Art der Personifizierung zu fördern. „Ana“ als Über-Ich, das der Anorektikerin ihre Lebensweise diktiert. Im Grunde ist diese Personifizierung jedoch überflüssig. Jeder Betroffene weiß, was er essen muss oder wie viel Sport er treiben muss, um abzunehmen. Diese Tatsache bringt mich zu der Schlussfolgerung, dass Pro Ana von Jugendliche für Jugendliche gedacht gewesen sein musste. Die Infantilität der Idee lässt keine andere Vermutung zu. Allein die Vorstellung, sich einfache Anleitungen, Motivationsbriefchen und -zeilen zu schaffen, um auf sein Ziel hinzuarbeiten, ist zutiefst schulisch, kindlich, primitiv. Und effektiv – nicht zu vergessen! Dies jedoch wirklich nur am Rande bemerkt! Zur Ausarbeitung einer Arbeitsthese fehlt mir bei weitem die Zeit!

Meiner Meinung erlebte die „Pro Ana Szene“ im Laufe der Jahre einen deutlichen Wandel. Von den anfänglichen Foren hochmotivierter Teenies sind nur wenige übrig geblieben. Zudem haben sich viele Betreiber darauf geeinigt, nur noch volljährige Mitglieder unter der Prämisse aufzunehmen, dass diese schon seit einiger Zeit unter einer Essstörung leiden und sich dessen auch bewusst sind. Die Radikalität ist aus den Foren geschwunden. Vielerorts finden sich sogar Tabuisierungen wie in Recovery-Foren (z.B. hungrig-online.de) wieder. Einige Betreiber wollen keine Gewichtszahlen oder Hinweise auf den BMI. Wieder andere schreiben schon im Vorspann zum Forum, dass hier kein Selbstmord auf Raten unterstützt würde.

Einige dieser Ansichten kann ich unterschreiben, andere jedoch nicht.

Ein wohl sehr schwieriges Beispiel ist „ATTE“. Bedeutet: Ana til the end. Ana, bis du tot bist. Einerseits verkörpert das natürlich einen großen Extremismus. Die Flucht in den Tod, das Loslassen vom Leben in der schrecklichen Welt der Nahrungsmittel, das Aufgeben gegenüber den täglichen Qualen, die vielleicht aus anderen psychischen Erkrankungen oder Krisen resultieren. Infantil heroisiert auch: der Aufgang im Nichts einer absoluten Reinheit durch den Hungertod, eine Art Würde. Diesen Punkt, ehrlich, den kann ich nicht nachvollziehen. Nicht ein winziges bisschen. Was ich jedoch verstehe, wenn auch nicht gut heiße, ist der offene Umgang mit dem Thema Tod durch Magersucht. Man kann der Magersucht nicht ins Auge sehen, wenn man den Tod außen vorlässt. Ein großes Problem dabei ist die Konfrontation mit Betroffenen, die ihr eigenes Sterben hinnehmen – etwa in einem „Pro Ana Forum“. Wenn Pro bedeutet, für Anorexie, dann heißt es auch gegen das Leben. Wenn es das aber nicht heißt, wäre es ein Mittelweg. Ich denke, das ist eine Entwicklung, die bereits eingesetzt hat. Pro Ana bedeutet mittlerweile „Leben mit der Essstörung“ und fordert in der Medienwelt Akzeptanz und Reflektion. Der Raum, den diese Bewegung dem Tod einräumen sollte, ist jedoch sehr sehr schwer zu definieren. Ich denke, das ist ihr größter Kritikpunkt. Der Tod darf nicht heroisiert werden! Er darf aber auch – ansonsten wäre es lächerlich, von Akzeptanz zu sprechen und dies als Kriterium für Pro Ana zu verwenden – nicht tabuisiert werden.

Fazit:

Die Pro Ana Bewegung ist vor allem eine Jugendbewegung. Sie findet in einer Internet-Subkultur statt, in der großer Freiraum für Extreme, Tabubrüche und offene Diskussionen besteht. Dieser Raum kann für die Betroffenen von Essstörungen sowohl förderlich, als auch schädlich und pathologisierend sein. Was für den einen eine positive Motivation ist, ist für den nächsten eine Demütigung. Wohin sich diese Bewegung entwickeln wird, kann man nicht wissen. Ich denke jedoch, dass einige ihrer Ansätze als positive Inspiration für kommende Therapie-Ideen dienen könnten. Man nehme allein die Offenheit, die vielen Therapeuten immer noch fehlt.