Es gibt kein wahr und unwahr. Begründet im subjektiven Empfinden von Leidensdruck, Glück, Unglück und Freiheit sehen wir immer nur den Punkt, an dem wir gerade stehen. Ist man gesund und verhältnismäßig glücklich, sieht man, wie andere unzufrieden sind und möchte ihnen etwas abgeben von der Normalität und dem, von dem man selbst glaubt, dass es die bessere Wahl sei. Und auch die meisten unzufriedenen Menschen wollen eigentlich irgendwo glücklich sein. Jeder will das, und wer behauptet, es wäre nicht so, der lügt. Man kann das Wort Glück sicher noch differenzierter betrachten. Die einen wollen geliebt werden, die anderen frei sein, wieder andere wollen einfach nur sie selbst sein oder werden. Ich möchte das nicht genauer definieren, ich werde dieses Wort einfach verwenden in der Annahme, dass jeder versteht, was ich damit meine.
Was Menschen sich auf dem Weg dorthin antun, weil sie glauben, dass es zum Ziel führt, das ist uns allen allzu gut bekannt. Es steht aber auch eines fest: die Vorstellung davon, was Glück ist, ist kein Allgemeinwissen, sondern subjektiv. Und genauso fest steht, dass die wenigsten Menschen überhaupt jemals richtig glücklich sind. Viel mehr von uns befinden sich irgendwo zwischen Unzufriedenheit und Wunschdenken. Man weiß, was man möchte und man glaubt, wenn man es erreicht hat, dann wird es einem besser gehen. Aber wirklich wissen kann man es nicht. So sind alle Annahmen über das Glück oder Unglück Anderer doch immer nur eins: Mutmaßungen.
Deshalb können wir nicht sagen: wenn ich 5kg weniger wiege, wird es mir gut gehen. Vielleicht wird es uns besser gehen, vielleicht haben wir auch schon die Erfahrung gemacht, dass es uns besser ging, als wir „weiter unten“ waren. Oder glauben, uns daran zu erinnern, dass es so gewesen sein muss, gemessen daran, wie unglücklich und wütend wir jetzt schon wieder sind. Und die andere Seite? Die „Gesunden“. Sie sind ihrerseits überzeugt davon, dass es besser ist, dort wo sie leben. In der Welt der erlaubten Snacks und kalorienhaltigen Getränke. Im Unbewusstsein der Lebendigkeit. Dem Esprit des Selberentscheidens. Gerade das, was der Essgestörte als Kontrolle empfindet, ist für sie Kontrollverlust, Unterordnung unter Zwänge und Ängste. Gerade das, was für uns Kontrollverlust ist, ist für sie Genuss und Freiheit. Aber Freiheit kann auch eine Last sein. Viel zu überfordert ist man mit der Auswahl an Möglichkeiten. In der essgestörten Welt sind die Dinge manchmal einfacher. Es gibt Regeln, Verbote und Konsequenzen. Wenn man nur perfekt genug lebt, wird man sich abends beruhigter aufs Kopfkissen legen können. Je weniger auf der Liste steht, desto besser ist man gewesen und desto weniger hat man versagt.
All das ist krank. Es ist krank und es ist in den Augen der wenigsten Menschen schön oder individuell. Es ist keine Freiheit, aber es ist frei gewählter Zwang. Zumindest muss man, wenn man als Essgestörter nach gesellschaftlicher Akzeptanz strebt, einmal öffentlich in diesen sauren Apfel beißen und die Gratwanderung wagen zwischen Krankheit und freiem Willen. Das macht die Magersucht so schwierig. Keiner kann genau sagen, wann die Krankheit anfängt und die Entscheidung aufhört, weil man nur noch getrieben ist von seinem eigenen gestörten Verhalten. Und nachweislich ist es ja so, dass ab einem gewissen Untergewicht das rationale Denken Löcher bekommt.
Da stehe ich nun und versuche zu erklären und zu verstehen, was die meisten Fachleute entweder stark vereinfachen oder gar nicht kapieren. Ja, Anorexie ist eine Krankheit. Aber Nein, Anorexie ist nicht nur eine Krankheit. Sonst wäre ich nicht hier. Ein großer Teil ist wohl auch – nicht nur weil man von Persönlichkeitsstörungen spricht, denn wenn man da anfängt, kann man alles aber auch alles als krank werten, was nicht ins Sozialbild passt – Teil der Persönlichkeit für viele Betroffene. Die Identifikation mit der Krankheit ist enorm. Und der Krankheitswert beginnt genau dort zu bröckeln, wo man sich dessen bewusst wird.
Ich rede hier allerdings eher über Langzeitessgestörte. Über Menschen, die mit ihrem Essproblem schon lange leben. Die dabei nicht unbedingt einen extremen BMI wie 12-14 halten. Ich kenne solche Frauen und ich weiß nicht, wie sie überleben. Ich weiß auch nicht, wie manche es schaffen, sich selbst zu belügen. Ich lebe anders. Ich weiß, wo ich bin und warum ich mir das „antue“. Für mich ist es eine Art von freier Entscheidung. Ich habe beide Seiten mehrfach gesehen. Ich habe sogar mal fast ein Jahr gesund gelebt. Habe mir alles gegönnt, was möglich war, feste Mahlzeiten gab es oder auch nicht, je nach Bedarf und Arbeitstag. Aber es hat mir einfach nichts gegeben. Es hat mir auch nichts genommen. Ich habe lediglich irgendwann festgestellt, dass ich mich in diesem Körper nicht mehr wohl fühle. Dass das nicht ich bin, sondern irgendetwas, das von Anderen besser akzeptiert wird. Für mich selbst ergab es keinen Sinn. Also ging ich langsam wieder über zu meinem alten Essverhalten. Ich habe keinen Teenage-Hungerwahn praktiziert, keinen Medikamentenabusus betrieben, nicht gekotzt und keinen Sport gemacht. Ich habe einfach so gegessen, wie ich das wollte und dabei ging es mir besser. Bis ich bei einem Gewicht war, mit dem ich mich wieder eher identifizieren konnte. Weil ich mich beweglich fühlte und frei. Weil ich in den Spiegel sehen und all die Merkmale erkennen konnte, die ich mit Zerbrechlichkeit verband. Das machte mir ein gutes Gefühl. Auch wenn es nicht gesund war und auch wenn ich nicht glücklich war. Aber ich war glücklicher.
So lebe ich vor mich hin. Nicht zufrieden. Nicht happy. Aber ich bin ich selbst und das ist nichts, wofür ich mich entschuldigen werde, nur weil es nicht der Norm entspricht. Anorexie ist kein Lebensstil. Aber Selbstbestimmung ist einer. Man kann keine scharfe Grenze ziehen, wenn man versuchen will zu verstehen, wo die Krankheit die Überhand gewinnt. Aber man kann sagen, dass manche Menschen es schaffen, mit ihr zu leben und dass dies ihre freie Entscheidung ist und nicht nur immer ihre mentale Benebelung durch irgendwelche Mangelerscheinungen, die nicht einmal vorhanden sein müssen. Zu sagen, es gebe nur das eine oder das andere, das wäre einfach zu trivial. Und bei Menschen haben wir selten Triviallösungen.