Monatsarchiv: Juni 2009

Immer zu allem stehen, was man tut? Sage nein!

Die Devise bei alten Geschichten. Man hat eine Freundschaft beendet, ist als Teenie ausgezogen, oder man hatte eine Meinung. 10 Jahre später hat man sie nicht mehr. Dann kommt der 0815 Standard Prolet und sagt „Steh doch mal dazu!“

Wozu stehen?
Dazu, dass man vor 10 Jahren etwas so gesehen, so getan, so gesagt hatte? Wer war man denn vor 10 Jahren? Ich – nein – ich kann nicht sagen, dass ich mir vor 10 Jahren besonders ähnlich sah. Ähnlich war. Ich bin ich, heute, wie ich hier stehe und das tue ich nicht zu dem, was zu Teenie-Zeiten aktuell war.

Ich hasse diesen Satz. Er ist so grenzenlos borniert  – er impliziert den Schwachsinn in seiner reinsten Form.

Steh doch mal dazu.

Steh doch mal dazu, dass du vor 10 Jahren ein anderer Mensch gewesen bist, mit dem du nichts mehr gemeinsam hast.
Dazu, wie viel du gegessen, getrunken oder gelacht hast. Aus nichtvorhandenen Gründen. An die du dich nicht erinnern kannst.
Steh doch mal zu deiner Frisur von vor 10 Jahren, oder zu deiner politischen Einstellung. Was, du bist gar nicht mehr rechts? Ich will aber, dass du jetzt mal gefälligst dazu stehst, das macht man so.

Ich mache das anders.

Ich stehe nicht zu meinem Geschwätz von gestern.
Oder meiner Meinung.
Oder meiner Lebensweise.
Sie ist es nämlich nicht mehr. „Meine“
Und deshalb stehe ich auch nicht zu meinen Narben von vor 10 Jahren. Sie sind alt, sie sind nicht ich und sie sind uninteressant. Zu blöd nur, dass sie immer noch da sind. Hätte ich einen kleinen Fahrradunfall ohne weitere Folgen gehabt, wäre dies nun auch nicht Teil meiner Persönlichkeit, wäre ich ein ganz normaler Mensch. Aber SVV erlaubt es wildfremden Menschen, sich anzumaßen, sie sein in der Lage, sich ein Urteil über eine Zeit zu erlauben, die 10 Jahre zurückliegt.

Ist das nicht überaus interessant?

Eine Szene
Mensch mit Narben am Arm sitzt im Café.
Bekannte kommt vorbei und setzt sich hin.
Bekannte mustert den Arm und denkt „Na, das ist ja… das hätte ich nicht gedacht.“ Gemeint ist Die hat sowas? Sowas ist echt gestört. Wie kann man nur so rumlaufen?
Anschließend wird man im Verlauf des Gesprächs, das trotz massiver Neugier erst einmal auf ein anderes Thema gelenkt wird, zärtlichst gefragt, was man denn da angestellt habe. Den Rest des Gespräches kann man dann unter Ulk verbuchen, da die Bekannte in 90% der Fälle nun eine für alle Ewigkeit feststehende Meinung von der Person, die sie kaum kennt, hat.

Sehr schön finde ich auch folgende Fragen (und Antworten):

Was hast du denn da am Arm? – Narben?
Hast du eine Katze? – Nee, zwei.
Du… sag mal, was is’n das eigentlich an deinem Arm? – Wonach sieht’s denn aus? (Manche meinen wirklich, diese Einfühlungsmasche wäre toll)
Ritzt du dich? – Präteritum. Danke der Nachfrage, ich verletzte mich selbst. Und zwar vor 10 Jahren. Wenn du willst, kann ich dir ein paar Selbsthilfegruppen für Sehgeschädigte nennen…
Das machst du aber nicht mehr da oder? Oh Mann…

Ich warte auf den Tag, an dem endlich mal jemand kommt und sagt:
Warst du mal SVVler?
oder auch ok wäre
Hast du Bordlerline?

Die Antwort auf die 1. Frage wäre Ja. Auf die 2. Nein. Borderline, ich glaube, eine der schlimmsten Diagnosen – denn sie klebt wie Sekundenkleber – blitzschnell und für immer. Mit Borderline lassen sich ja alle Probleme so gut erklären: die kaputte Beziehung, das Verhältnis zu den Eltern, die Essstörung. Alles Borderline. Und: es ist eine prima Ausrede, um einen Menschen als gestört zu bezeichnen. Oder als dumm. Denn SVV macht ja heute jeder, das ist chic, auch nur so ne Mode wie dieser Schlankheitswahn. Und wer das schön findet, ist ja total krank. Wer’s einfach nur so macht, ist auch intelligenzgemindert, denn er sieht ja nicht, wie hässlich und nutzlos das ist.

Genau.

Genau so wird es wohl sein.

Thinspiration, Fatspiration – Mager und schön, dick und doof?

Auf vereinzelten Wunsch ein Wort zu diesem Thema.

Es kommt nicht selten vor, dass als Trigger auf Pro Ana Seiten Bilder übergewichtiger Menschen gezeigt werden. Sozusagen als Anti-Thinspos. Die Thinpos – lang „Thinspirations“, Abziehbilder dünner Mädchen – zeigen die Perfektion, das Wunschbild des eigenen Körpers. Sie stellen dar, was man erreichen will. Oder vielleicht sogar schon erreicht hat, aber dank Körperschemastörung erfolgreich verdrängt. Man sieht sie an, voll bewunderndem Neid für die dünnen Mädchen. Vielleicht lebt die ein oder andere bereits nicht mehr, aber für den Moment sind sie brauchbare Ikonen.

Die Anti-Thinspos, die Fetten, sind auf dem gleichen Rang wie sog. „Food Porn“ Bilder. Bilder von Essen, das man nicht haben kann. Ich bin mir ehrlich gesagt nicht ganz im Klaren darüber, warum manche Magersüchtige sich diese ansehen. ICH bekomme jedenfalls Hunger von sowas. Ich guck lieber in eine Zeitung. Die Dicken verstehe ich schon eher: man will so nicht werden. Identifizieren kann ich mich damit jedoch nicht. Ich war selbst nie dick und wenn ich sage, dass ich mich fett fühle, meine ich eigentlich „Ich habe Körperteile, an denen sich Unterhautfett befindet.“ Normal, aber für mich: unangenehm. Zu weich. Zu feminin. Zu undefiniert. Fett eben. Dicke Menschen haben viel viel mehr davon. Was haben sie mit Magersucht oder Trigger zu tun? Wen triggern sie? Wer fühlt sich so sehr fremd, dass er solche Bilder braucht? Die Angst muss unendlich groß sein für diese Art von Hybris. Ich kann es nicht beurteilen.

Wenn ich durch die Stadt gehe und einen dicken Menschen gehe, denke ich jedoch auch meist nichts nobles. Ich will ehrlich sein. Ich weiß nicht, ich weiß es wirklich nicht, wie man sich so sehr gehen lassen kann, dass man bei 1,60m Körpergröße 150 kg erreicht. All die Burger und Torten, ich müsste mich auf dem Weg dort hin so oft erbrechen, dass ich es nie auf die 150 kg bringen würde. Und ich hätte auch bei weitem nicht einmal die Zeit, so viel zu essen. Ich empfinde aufrichtigen Ekel beim Anblick dicker Menschen. Das ist mein erstes und ehrliches Gefühl. Ich empfinde kein Mitleid, sondern einen Haufen üblen Unverständnisses. Das Mitleid entsteht erst auf den 2. Blick. Wenn ich darüber nachdenke. Wenn ich mir vorstelle, dass so ein Mensch vielleicht einen dicken Vater und eine dicke Mutter hatte, vielleicht einer davon noch alkoholkrank. Vielleicht mangelt es an Intellekt, Freunden oder gesundem Essen. Vielleich hat derjenige einen Missbrauch hinter sich und frisst sich einen Schutzpanzer an, hat sonst kein Vertrauen in sich, ist ganz allein. Vielleicht will er oder sie aber auch nichts lieber als abnehmen und schafft es nicht, weil der Magen so stark erweitert und atonisch ist, dass er ständig nach Essen schreit.

Woher soll ich das wissen?

Warum also dicke Menschen als Anti-Idole missbrauchen? Warum sie abwerten, indem man zeigt, dass man so nicht sein will, dass es das allerletzte ist, ekelhaft und dumm. Intelligenz misst sich nicht am Körperfettanteil. Im Gegenteil: das Hirn besteht aus Fett.

Ich finde sie nicht gut, diese Bilder.
Ich weiß nicht einmal, ob ich die normalen Thinspos gut finden kann. Ich sehe sie mir an, wie man sich die Bilder einer berühmten Person ansieht, wenn man ein Teenie ist und vielleicht ihren Stil kopiert. Aber ich kopiere nicht das Dünnsein. Ich wollte schon immer dünn sein. Ich benutze Bilder, um mich damit zu vergleichen. Um mir vorzustellen, wie ich aussehen würde, mir das Gefühl dabei vorzustellen. Das gute Gefühl, dünn zu sein.
Definitiv werden diese Bilder also positiv bewertet.
Die Bilder der Dicken werden es nicht.
Die Dicken werden verurteilt, so wie es die Dünnen auch werden. Auf den Bildern sollen die einen die perfekte Magersüchtige zeigen. Die Dicken stellen das perfeckte Abschreckbild dar.

Aber was haben sie gemeinsam? Beide werden benutzt, beide erfüllen Pauschalvorstellungen einer Wunschidee. Beide sind essgestört und da wir keinen der Menschen auf den Bildern persönlich kennen, wissen wir auch nicht, warum das so ist. In Gut und Böse zu unterteilen und so zu degradieren macht also keinen Sinn.

Es wird nicht leichter

Oder ich werde nicht leichter.

Jeder kennt sie, diese Phasen vollkommen unverständlicher Stagnation. Über Wochen quält man sich, oder zwingt sich sogar, mehr zu essen, um an der Obergrenze zu bleiben und vielleicht nicht gleich den Stoffwechsel auf Sparflamme zu setzen. Aber nach 8 Jahren Essstörung kennt der sich selbst besser als wir seine Reaktion. Manchmal glaube ich, vom Denken fett zu werden.

4 Wochen ein und dieselbe Zahl auf der Waage. Jeden Tag läuft man fast Amok auf dem Weg zum Kühlschrank, befürchtet eine Fressattacke der übelsten Art oder von dem bisschen, was man sich noch erlaubt, einfach nur so zuzunehmen. Man spart jedes Gramm und am nächsten Tag: wieder nichts. Wieder Enttäuschung.

Trotzdem kommt nie die Frage „Warum das alles?“ zur Beantwortung. Man will es nicht aufgeben. Ich nicht. Ich schaffe es. Ich bin noch nicht gut genug. Sehe noch so falsch und unförmig aus und passe gar nicht zu mir. Ich will anders aussehen. Ich will einmal etwas schaffen.

Meine Gedanken für heute.

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