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Arbeiten, leben, denken – mit oder trotz Essstörung?

So viele Kommentare! Ich möchte mich erst einmal bedanken. Auch wenn ich nicht auf jeden antworte(n kann oder es mir z.T. seltsam vorkommt, so viel selber zu kommentieren und ich dann lieber einzelne Themen aufgreife und einen neuen Artikel draus mache), lese ich doch immer alle 🙂

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Wie ihr vielleicht meinen klagenden Jammerposts (und meinen intellektuellen Lesern ist auch bewusst, dass dies eine deplazierte Tautologie war…) entnommen habt, habe ich in den letzten Wochen einen kurzen Abstecher in die höheren Gewichtsbereiche meiner Varianzzone gemacht, um nicht zu sagen: gefressen und zugenommen. Dies hat nun ein Ende. Back on the road again.

Dabei kommen sie ja immer mal wieder auf, die Gedanken an „Was wäre wenn?“ – was wäre, wenn man einfach normal essen würde. Eigentlich schade, dass es nicht funktioniert, wo ich zu dem Schluss komme, dass Essstörungen vielleicht doch mehr als psychische Krankheiten sind. Sie sind viel mehr genetisch, neurologisch oder eine Weltanschaung die auf genetischen, neurologischen oder sozialen Abberationen beruht. Sowas ist schwer rauszukriegen. Ist natürlich nur eine These, aber ich halte daran fest, bis jemand die Ursache gefunden hat. Jedenfalls führt einen diese Andersartigkeit immer wieder zurück zu den gleichen Ansichten. Man will eigentlich gar nicht zunehmen, man will nicht gesund sein, ins Schema passen, gefallen. Vielleicht ist man es über die Jahre leid geworden, für alle nur das Sorgenkind zu sein. Keiner sieht den Menschen darunter und die wirklichen Probleme. Man ist für alle nur noch „Essen“. Das an sich ist eigentlich verabescheungswürdig und hat mich oft motiviert, die ES zu verbergen, oder zu versuchen, von ihr loszukommen. Ich wollte kein Essipüppchen sein, denn das wird auch immer ein bisschen mit Charakterlosigkeit und Schwäche assoziiert. Besonders „intelligente“ Therapeuten (eigentlich muss das auch noch in “ „) setzen diese Dinge auch gern gleich. Es ist, als würde man ein Kopftuch tragen und alle sehen nur noch das Tuch und assoziieren frei irgendwelche Eigenschaften, die man wohl als Kopftuchträger haben muss. Diese bekommt man angeheftet und wird sie nie wieder los. Die ES ist ein gigantisches Kopftuch. Ablegen mag ich sie dennoch nicht. Ich weiß, der Vergleich hinkt. Kopftücher, Kruzifixe, sonstewas… es könnte mir kaum gleichgültiger sein. Wenn ich was besseres finde, nehm ich das, aber die Analogie des Ablegens hat mir so gut gefallen.

So läuft man dann also durch die Welt. Von allen Seiten Druck und Panikmache. Man kann dies, das und jenes niemals mit ES schaffen. Man wird nie bla bla. Was wahr ist: mit einem gewissen Gewicht wird man wohl eher im Krankenhaus landen als auf einer Doktorandenstelle, andererseits: ich kann kaum diese Wohnung verlassen, wenn ich weiß, dass ich „dick“ bin. Ich will nicht gesehen werden, nicht sprechen, nichts tun, ich möchte einfach versteckt bleiben, weil ich das Gefühl habe, jeder sieht meine Fettheit (die sich um einen 18er BMI herum beläuft, ab 18 ist für mich die Grenze des Erträglichen überschritten, eigentlich schon eher, aber ich erspare euch die Details, das ist und bleibt kein rosa-Blümchen-Blog). Alles ist ungemein anstrengend, auf eine andere Weise als mit Untergewicht, aber es ist lähmend. Nichts ist möglich. Bei allem muss man nur denken „Scheiße, ich bin fett.“ Unzufriedenheit macht antriebslos. Das kann Monate dauern. Irgendwann, hopefully, findet man zurück zum „Normalen“. Zum Hungern, zum Durchhalten, zu dem, was man eigentlich ist: ein Hungerkünstler.

Wenn man das geschafft hat, kommen nun die Zweifel von der anderen Seite. Irgendwann wird die Frage nach den engen Hosen obsolet, weil sie einfach nicht mehr eng sind.  Jeder logisch denkende Mensch wird das irgendwo in einem stillen Hinterstübchen seines Hirns akzeptieren. Zudem weiß man als Langzeithungerloser auch, dass man eine ES hat und muss sie nicht mehr künstlich vor sich selbst verleugnen. Man hat eine gewisse Körperschemastörung. Sie treibt einen noch in den Wahnsinn, wenn man schon kaum noch laufen kann. Aber irgendwo deep down weiß man, dass man nicht mehr fett ist. Die Frage nach dem Wohlbefinden, Antrieb, Rausgehen wird also verdrängt durch simple Überlebensstrategien. Kann man diesen Weg zu Fuß schaffen? Kann man heute raus gehen, ohne sich zu erkälten, weil das Blutbild so schlecht ist? Kann man ohne Jacke gehen? Soll man diese Treppe  nehmen, oder ist es mit dem Blutdruck unvereinbar?

Das alles nimmt einen vollkommen ein. Ein Tagesgeschäft. Man lebt davon, damit und an sich selbst vorbei. Man lebt eigentlich nicht mehr richtig. Wir reden hier übrigens von der Region BMI 14. Eine karge Landschaft.

Das Dumme ist: wenn man in dieser Wüste angekommen ist, hilft nur noch eins: Essen. Und man weiß das. Und es quält und ärgert einen ohnegleichen. Jetzt findet man entweder noch schnell sein Hirn oder man verliert. Ergo ein Gang in die Klinik und du wirst sie nicht mehr verlassen, bis zu einen 19er BMI hast, ganz egal ob er dir steht oder nicht. Oder: du reißt dich zusammen und tust das Unvermeidliche: täglich etwas mehr.

Problem ist nämlich: 14er BMI und Arbeit, Studium, Leben, Denken… ist nicht vereinbar. Ist es nicht. Erzählt, was ihr woll. Been there, done that. Es ist Unsinn. Vielleicht kann man das als 16jähriges Schulkind eine Weile durchziehen. Aber nicht als Mittzwanziger mit über 10-jähriger ES-Karriere. Kommt noch Kotzen dazu, kann man es bereits bei viel höheren Werten vergessen. Ohnehin: individuell wie immer. Ab wann man sich „richtig scheiße“ fühlt, total unterschiedlich. Und wenn es anfängt, muss man aufhören oder untergehen. Sonst kommt irgendwann der Tag, wo man eine 4 schreibt, weil man zu müde und kaputt ist, oder man kommt zu spät oder man kippt auf der Arbeit um und gibt allen dummen Blicken und Kommentaren, die man je erhalten hat, die provozierte Bestätigung. Das kann es auch nicht sein.

Warum ich das schreibe? Ich bin kein Moralapostel und ich halte weniger als nichts von dem Bild, was die meisten Menschen von Gesundheit haben. Aber ich habe mich selbst oft gefragt, wie weit man gehen kann. Und es ist nicht so weit. Irgendwann kommt immer dieser Riegel. Man versagt irgendwo und hätte man es vorher nicht dermaßen übertrieben, wäre es vielleicht nie passiert. Aber man wird es nie rausfinden. Deshalb sage ich das. Wenn ich ehrlich bin, bin ich keinen Deut besser. Ich habe in 10 Jahren nichts gelernt und hungere noch wie am ersten Tag. Kein Tag vergeht, an dem ich nicht ein schlechtes Gewissen habe und trotzdem will ich nicht, dass es anders wird. Es ist da, es ist okay, es geht irgendwie. Aber diesen ganzen Seiltanzkram, bei dem es drauf ankommt,  nicht runter zu fallen, den empfinde ich jeden Morgen wieder als Herausforderung der unangenehmen Art.