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Neues Unwort: „Weborexics“

Sehr toll, gerade erst gefunden und schon verinnerlicht. Zweifels ohne soll es abfällig klingen. Einerseits sagt es: „Leute, die sich im Internet zum Hungern antreiben und das wahnsinnig cool finden.“ Dann vielleicht auch „Herumzeigen der eigenen Störung (im Internet)“ oder etwa „Gar nicht richtig krank sein, aber es auf jeden Fall werden wollen“ (leichte phonetische Ähnlichkeit von „Wannarexic“ und „Webarexic“ dürfte auffallen).

Gefunden habe ich den Begriff in diesem Artikel.

(falls diese Quelle aus dem Netz verschwinden sollte, können Interessierte eine Mail an mich schreiben, das Objekt befindet sich in kopierter Form auf einem meiner Datenträger…)

Fängt schon mal gut an: „Pro-Ana’s are young women who proclaim themselves to be proudly anorexic, and they have created a vibrant community online.“

Der Artikel will…. „[…] discuss the ethical issues surrounding the sites, wherein many have been censured or shut down by commercial website hosting sites, which has raised issues of censorship versus freedom of speech.“
Der letzte Teilsatz ist interessant …

Zur Information: Auszug aus Artikel 5 des Grundgesetzes der BRD

„(1) Jeder hat das Recht, seine Meinung in Wort, Schrift und Bild frei zu äußern und zu verbreiten und sich aus allgemein zugänglichen Quellen ungehindert zu unterrichten. Die Pressefreiheit und die Freiheit der Berichterstattung durch Rundfunk und Film werden gewährleistet. Eine Zensur findet nicht statt.

Nachzulesen z.B. hier: dejure.org

Und für Wissbegierige: Ein Land, in dem sich vmtl. keiner Sorgen um die Zensur von Pro Ana Seiten macht… der Iran

Nun aber zurück zum eigentlichen Thema, diesem Text und den Weborexics, die darin vorkommen… Nach und nach wird hier ausführlich erklärt, zu was die Pro Anas fähig sind. Nicht nur, dass sie Foren betreiben, nein, sie besitzen auch Homepages (im Übrigen existiert keine der als Quellen in dem Artikel verlinkten Seiten heute noch) – dort zeigen sie böse Dinge, wie ihre Ansicht über ihre eigenen Krankheiten, die sie als Lifestyle deklarieren. Sie tauschen sich über Chatrooms aus (typisch für solche Seiten, hm!) und führen Links zu anderen bösen Seiten (in many instances, to other Pro-Ana and ED support sites, but in some cases to recovery and health sites).“ – Moment, das ist jetzt aber seltsam! Warum tun die das denn, wenn sie doch in Wirklichkeit die Versklavung der Menschheit unter einer Göttin namens Anorexia fordern? Warum sollten sie nicht-therapiefeindliche Seiten verlinken, wo doch alle Weborexics gemeine, hinterhältige Klinikverweigerer sind, die nichts lieber tun, als vor dem Computer ihrer Anorexie zu fröhnen?

Da gibt es nun zwei Möglichkeiten.

  1. Es ist ähnlich wie in Deutschland, man verlinkt die „Recovery“ Seiten (wie BzgA, hungrig-online,…) für Leute, die keine Essstörung haben. Diese sollen sich nicht im Forum anmelden, weil man nicht will, dass sie dort tiefer in eine Krankheit hineingeraten, die vielleicht noch in der Entwicklung ist und aufgehalten werden kann …
  2. Die Leute benutzen diese Links als Alibi und täuschen Punkt 1 nur vor.

Ich kann nicht beurteilen, wie die Auffassung von „Pro Ana“ oder „With Ana“ in den Vereinigten Staaten ist. Ich bezweifle, dass sie besonders einheitlich sein wird. In Deutschland verhält es sich meiner Erfahrung nach jedenfalls so, dass die meisten Seiten, auch wenn sie unter der Headline „Pro Ana“ irgendwo auftauchen, eher gemäßigte Ansichten vertreten. Todesverherrlichung, „Ana Stuff“ wie „Anas Brief“ und gegenseitiges mutwilliges Triggern sind eher unerwünscht. Dennoch ist „Pro Ana“ der Zugang zu diesen Seiten. Nicht aber, weil die entsprechenden Seiten tatsächlich das sind, was die Medien und solche Artikel unter dem Begriff verstehen, sondern weil das Wort „Pro Ana“ ein Gegenstatement zu „Lass dich bitte in die 10. Klinik einweisen und wieder ohne jeden positiven Effekt  behandeln – so kann man ja schließlich nicht leben!“ ist. Seiten, die einen Raum für Menschen mit Essstörungen bieten wollen, in dem tatsächlich nicht zensiert wird (Selbstzensur ist übrigens legal) werden über dieses Schlagwort gefunden, daran gibt es keinen Zweifel. Deshalb sind sie jedoch keine Hirnwaschanlagen für junge Mädchen. Sie bieten lediglich einen anderen Weg, mit sich selbst umzugehen. Das nennt sich dann Vielfalt. Ein Attribut der Meinungsfreiheit.

In jedem Fall, die Prämisse kann hier nur eine sein:

Read between the lines.

Was können wir also tun, um der Welt zu zeigen, dass wir keine Weborexics sind? Dass wir keine Menschen sind, die anderen schaden wollen, sondern dass wir Gemeinschaften bilden, um über unsere Probleme zu reden und und gegenseitig zu helfen? Vermutlich bedürfte es einer Art Initiative. Einer Art Statement, dass jeder in seine Website einbauen kann, und das auf eine Bekanntmachung verweist, die deutlich macht, dass es sich nicht um eine Tod-durch-Hungern-ist-cool-Seite handelt…

Soviel zu meinen Gedanken.

„Isabelle Caro – qu’est-ce tu veux?“ oder „Multimediale Magersucht?“

Nichtsahnend sitze ich spätabends über der Steuererklärung und vor dem Fernseher, als mir nach einer Reportage über unbefriedigte alte Männer, Isabelle Caro über die Mattscheibe läuft.

Ich glaube, ich habe an die 100+x Reportagen und Filme über Magersucht und andere Essstörungen gesehen. Manche sind gut, sie bilden die Ausnahme. Die meisten sind nur Resumes ohne tiefgehenden Inhalt.

An den Sender kann ich mich nicht erinnern, es war nur ein kurzer Abschnitt. 5 Minuten Isabelle Caro. 5 Minuten Sinnlosigkeit. Was ist das Ziel dieser Person? – Die Kritiker bemängeln, dass Caro als Ikone der Magersucht gehandelt wird. Sie selbst berichtet, ja schon 7 kg zugenommen zu haben und überhaupt! Das Essen könne sie nun ganz anders wahrnehmen, ja sogar genießen. Das sei ein riesiger Schritt und ganz rosalebensjubelwunderbar. Wo die 7 kg sind, weiß ich nicht, aber ich schätze nicht auf Isabelles Rippen. Die Reportage ist kritisch, wenn auch durchschnittlich. Isabelle wird beim Posing vor der Kamera gezeigt – ihr Lächeln zieht das straff gespannte Gesicht nicht mehr in Falten. Ihre Nase ist fast verschwunden – oder war sie nie da? Ich habe mich schon immer gefragt, ob sie den Knorpel weggehungert hat, aber manche Geheimnisse nehmen Menschen wohl mit ins Grab. Genau wie Isabelle, die vor lauter Kampf gegen die Magersucht, Ana Posen vor der Linse und Charity Veranstaltungen gar nicht so viel essen kann, wie sie dabei verbrennt. Wie soll diese Person zunehmen? Und vor allem, warum? Isabelle ist das, was man medienwirksam nennt. Sie ist der Inbegriff der Nahrungsverweigerung, auch wenn man ihre Motive nicht erkennt, da sie durch ihre enorme Präsenz erreicht hat, dass sich niemand mehr für ihre Persönlichkeit interessiert. Nun hat sie sie, die Aufmerksamkeit. Und in einem Zug mit dieser Aktion hat sie sich die Hilfe vom Leib geschafft. Niemand wird kommen und Isabelle, die öffentlich der Magersucht den Kampf angesagt hat, entmündigen und in eine Klinik einweisen.

Aber was bedeutet das für andere Magersüchtige? Isabelle Caro steht indirekt für die Unmündigkeit. Nicht nur dass sie die Unfähigkeit zu handeln demonstriert und damit Essgestörtsein in der Öffentlichkeit als pure Unfähigkeit zu leben zeigt. Nein, Caro sagt so quasi auch: „Ich kann nicht anders. Ich bin ein Opfer. Ich will ja, aber ich kann nicht.“ Nur, dass sie dabei hochgradig unglaubwürdig ist – einerseits will sie reflektiert sein und kämpfen – andererseits weist sie die Verantwortung mit der Opferrolle von sich. An allem ist ja doch nur die Mutti schuld, warum also weiter darüber nachdenken?

Sie gibt durch ihr Verhalten den Medien Raum, um Magersucht als Feind der Weiblichkeit, der Schönheit, der Normalität und des Lebens zu verstehen. Ihre Art, mit der Krankheit zu leben ist dermaßen kurz vor dem Tod, dass sie keine Akzeptanz hervorrufen kann. Deshalb muss sie sich auch öffentlich dagegen stellen. Mit dieser Art, sich zu vermarkten, nimmt sie jedoch anderen Essgestörten die Möglichkeit, ihre Art mit der Krankheit umzugehen darzustellen. Und damit entmündigt sie alle Magersüchtigen.

Sind wir ehrlich? Kein Mensch will doch wissen, wie man mit Magersucht leben kann. Wen interessiert schon, wie man an einer so harten Grenze leben will? Es ist viel leichter, für jede Diagnose eine Behandlung und Heilung anzunehmen. So muss es gehen, das ist der einzig richtige Weg. Ab in die Klinik mit dem unliebsamen Kinde. Was das für die Menschen bedeutet, die krank sind, wissen die Außenstehenden nicht. Und in vielen Fällen werden sie es auch nie erfahren, da sie ihre eigenen Angehörigen mit nicht viel anderen Augen sehen als die Öffentlichkeit Isabelle Caro – als einen Menschen, der nicht funktioniert. Aber irgendwie muss es ja schließlich gehen. Und wenn das Kind aus der Klinik kommt, sieht es hoffentlich wieder schön rosig aus. Wer sich dagegen entscheidet, ist gestört und muss behandelt werden.

Ich glaube, dass viele Wege nach Rom führen. Und aus der Magersucht. Solange in unserer Gesellschaft nur auf gesund und krank fokussiert wird, kann es keine Akzeptanz geben. Man kann nur für sich selbst sprechen und hoffen, verstanden zu werden. Das mache ich. Ich lebe mit meiner Krankheit, lange, gut und fast ohne Behandlung. Ich hungere mich nicht zu Tode, ich finde Isabelle Caro nicht schön und den Fernseher schalte ich dann mal aus…

Thinspiration: das Antidot der Moral?

Ein üblicher Inhalt auf Pro Ana Websiten ist eine Abteilung mit Thinspiration. Thin + Inspiration = Thinspiration (wie man vmtl. auch dem Klang schon entnehmen kann oder bereits durch Mitteilungen einschlägiger Yellow-Press-Blätter erfahren hat). Auf der (ugs. auch) „Thinspo“-Seite findet man üblicherweise Bilder dünner Mädchen. Manchmal sind sie auch sortiert in:

  • Real Life Thinspos (Amateurbilder von echten Anorektikerinnen)
  • Bone Pictures (auch „Bony Pics“ oder „Hardcore Ana“)
  • Celebs (handelsübliche Promis wie die Olsen Twins, Nicole Richie oder Angelina Jolie. Auch sehr gefragt: Keira Knightley. Und japp, alle Magersüchtigen und Bulimiker, die ich kenne, halten sie für ziemlich essgestört. (Warten wir auf das nächste Dementi.)

Die Thinspiration wird von vielen Journalisten als Objekt der Verwerflichkeit aufgenommen und frei interpretiert. Thinspo ist böse, weil……. alle Jugendlichen dieser Welt dadurch magersüchtig werden!
Wussten Sie auch, dass alle Jugendlichen dieser Welt von Lottowerbung spielsüchtig, von Tabakwerbung Raucher und von Werbung für H&M kaufsüchtig werden? Nein? Ist aber so, steht bestimmt irgendwo in der ****Zeitung.

q.e.d.

Die Thinspiration ist mit Sicherheit eines nicht: politisch korrekt. Die Frage ist aber: ist sie deshalb menschenverachtend und jugendgefährdend? Diese Frage kann ich nur aus dem subjektiven Kontext heraus beantworten, denn ich bin kein Wissenschaftler (jedenfalls nicht in dieser Richtung) und mag mir nicht anmaßen, über Dinge zu urteilen, mit einem Urteil, zu dessen Repräsentation ich nicht in der Lage bin.

Ich denke, dass Thinspo grenzwertig menschenverachtend ist, ja. Denn es werden auch leidende, z.T. vielleicht sogar sterbende Magersüchtige abgebildet. Sich davon „inspirieren“ zu lassen, das sollte der Verstand schon verbieten.
Andererseits:
Wer erlaubt sich, ein Maß für Geschmack – und Geschmack hat nichts mit Gesetz zu tun, solange er es nicht tangiert, ist seine soziale Extremität herzlich egal – anzusetzen? Ich möchte daran erinnern, dass es Menschen gibt, die sich im Fernsehen öffentlich als „Deutschlands schönste Dicke“ vermarkten. Den Cholesterinwert will niemand wissen, aber mehr als ein wenig Ekel hier und etwas Lachen da wird über den Kopf der Delinquenten nicht ausgeschüttet. Die Magersüchtigen dagegen sind die Antichristen. Ihr Schönheitsideal ist offensichtlicher tödlich, propagiert angeblich noch den Tod als chic und sprengt damit alle Grenzen menschlichen Verständnisses.

Liebe Leser, ich bin mir selbst nicht ganz im Klaren darüber, was nun besser ist. Vielleicht sind die Extreme immer etwas, das man eben schwer verstehen kann. Ich denke allerdings, die Welt ist so bunt und wir können froh sein, dass man in unserem Land dermaßen frei reden kann. Solange niemand einem anderen Schaden zufügt, bleibt die Sache eine Frage des Stils. Ob der in den Augen der Mehrheit nicht vorhanden ist, steht im Raum. Es kann jedoch nicht sein, dass etwas legalisiert wird, sobald es im sozialen Raum als lustig, peinlich oder etwa als Kunst gilt, ganz gleich, ob man davon einen Herzinfarkt oder einen Atemstillstand bekommt…

Ein paar Worte zum Jugendschutz: Meiner Meinung nach sind Jugendliche überall gefährdet. Wir leben nicht 1950 und kopieren Streiche aus der Micky Maus. Das Internet zur Fundgrube für jugendgefährdende Inhalte zu erklären ist gar nicht nötig. Es ist eine. (siehe auch „The Internet is for Porn„) Natürlich ist es nicht richtig, nun die Verbreitung jugendgefährdenden Materials zu supporten. Nein! Dies ist auch nicht mein Ziel. Ich fände es gut, wenn die Autoren von Pro Ana Seiten einfach etwas reflektierter schreiben und vielleicht an der ein oder anderen Stelle einen Jugendschutz-Hinweis einbauen würden. Andererseits sehe ich aber auch die Aufgaben der verantwortlichen Behörden nicht darin, einzelnen Blogs und Fotoalben hinterherzujagen, sondern Aufklärung zu betreiben, Jugendlichen Perspektiven und echte Inhalte zu bieten – und das nicht, indem man sie durch Schreckensbild-Vorträge neugierig macht und triggert. Ich weiß, dass das schwierig ist. Aber schwierig heißt nicht unmöglich, und ich wünsche allen, die sich dieses Ziel zur Aufgabe gemacht haben, viel Erfolg dabei! Ich hoffe, dass wir alle irgendwann mehr Toleranz für einander aufbringen können. Denn das wäre etwas, das uns allen helfen könnte. Denen, die Prävention betreiben wollen und denen, die einfach mit ihrer Krankheit leben wollen. Denn nur, wenn man einen Punkt erkennt, ab dem Intervention sinnlos ist, kann man vorher handeln. Und diesen Punkt gibt es leider allzu oft.

So viel für heute.

Noch ein kleines Fazit: Adipöse, ihr seid nicht besser, aber wir haben euch trotzdem lieb. Wir würden uns nicht hinstellen und euch diskriminieren, weil wir wissen, wie es ist, wegen seines Gewichts angestarrt zu werden. Aber wir wollen ebensowenig denunziert werden für etwas, das nur unsere Entscheidung ist.